Ich versuche das jetzt einfach einmal
– Lyónn Wolf mit Vika Kirchenbauer
Im Dialog mit aktuellen und ehemaligen Stipendiat*innen sowie Gastautor*innen entwickelt sich Plural zu einem Raum für textuelle Formen, die sich mit künstlerischer Forschung auseinandersetzen, sie reflektieren und praktizieren. Diese Essays und Gespräche erörtern Theorien, begleiten Forschungsprojekte und untersuchen Rahmenbedingungen von Wissensproduktion.
Der folgenden Text sind Auszüge eines Gesprächs zwischen Lyónn Wolf (Fellow 2022/23) und Vika Kirchenbauer, Künstlerin, Autorin und Musikproduzentin, in dem sie diskutieren, wie sich künstlerische Praktiken – insbesondere im Bereich des Schreibens und der Videoarbeit – akademischen und ästhetischen Normen widersetzen können.
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Ich versuche das jetzt einfach einmal
– Lyónn Wolf und Vika Kirchenbauer

Text in Public, Zine Performances and Rants (2022), Künstler*innenmonografie veröffentlicht von Archive Books, Scriptings Berlin und eeclectic, mit freundlicher Genehmigung der/des Künstlers/Künstlerin
Lyónn Wolf: In 2022 haben wir beide Bücher veröffentlicht: du Works, Scripts, Essays 2012-2022 (Mousse Publishing) und ich Text in Public – Zine Performances and Rants (Archive Books, Scriptings Berlin & Eeclectic). Text in Public ist eine Materialsammlung der vergangenen neun Jahre: Manifeste und Performanceskripte, aber auch Videos, Essays, spekulative Fiktion und Mitschriften von Workshops.
In den Texten habe ich experimentiert, versucht, Dinge auszuprobieren, und Wege zu finden, so mit Sprache zu arbeiten, dass sie sich für mich interessant anfühlt. Wenn ich mir das Buch jetzt ansehe, bin ich überrascht, wie sich alles zu einem runden Ganzen zusammenfügt. Denn die Arbeit an sich war alles andere als geradlinig, jeder Text hat unzählige Anläufe gebraucht. Ich habe mir gesagt: „Ich versuche das jetzt einfach einmal”, ohne ernsthaft anzunehmen, dass irgendetwas vorgesehen oder festgelegt war. Jetzt kann ich sehen, dass ich mir auf diese Weise einen Möglichkeitsraum eröffnet habe, jenseits der Zwänge akademischer Sprache oder sozialer Klasse, die dem öffentlichen Sprechen und Schreiben auferlegt sind – und auch jenseits des Glaubens, alles müsse korrekt und neutral sein muss, von jeglichen Spuren klassenverbundener Ausdrücke befreit, um einen künstlerischen Wert zu haben.
Nun fühle ich mich in der Lage, als Künstler*in aus der Arbeiter*innenklasse zu schreiben – auch ohne einen Abschluss in kreativem Schreiben. Ich habe auch das Gefühl, mir jetzt zu erlauben, so zu schreiben, dass Sprache zum Material wird, das in der Lage ist, Bedeutungen, Chaos und Unvollkommenheit in sich zu vereinen. […]
Autor*innenschaft hinterfragen
Vika Kirchenbauer: Deine Schreibpraxis ist ein integraler Bestandteil deiner Arbeit mit Bewegtbildern. Vor allem im Kontext deiner Videoarbeiten interessiert mich, wie du beim Schreiben mit didaktischen Elementen umgehst. Wie vermittelst du Informationen und wie interagierst du mit dem Material, das du im Rahmen deiner Recherchen erarbeitet hast? In der zeitgenössischen Kunst sehe ich oft, dass die Inhalte von Künstlerinnen und Künstlern lediglich auf etwas aufmerksam machen oder auf ein Thema verweisen, ohne dabei unbedingt eine eigene Analyse zu formulieren. Ich bin neugierig, mehr über deine Herangehensweise zu erfahren und darüber, wie deine Arbeit ihre Form erhält.

Vika Kirchenbauer, WORKS; SCRIPTS, ESSAYS 2012-2022, Mousse Publishing, 2022, Buch, © Vika Kirchenbauer & VG Bild Kunst
LW: Das ist eine sehr gute Frage, mit der ich mich auch immer wieder bewusst auseinandergesetzt habe. Beim Drehbuchschreiben etwa, wobei eine Menge Recherche betrieben, trifft man Aussagen, die leicht didaktisch geraten können – man gerät schnell in eine Art Vortragsmodus.
Mir geht es darum, diesen belehrenden und vereinzelnden Aspekt der Autor*innenschaft in Frage zu stellen. Ich glaube, das hat etwas mit dem Druck zu tun, der auf bestimmten Formen der Autor*innenschaft lastet, die einen Anspruch auf Meisterschaft erheben. Ich denke da an eine sehr strenge und reine Ästhetik, an etwas Feinjustiertes, das an Forensik grenzt, an die Art von ausgeklügelter Arbeit, die oft als gutes Beispiel für künstlerische Forschung angesehen wird. Von einer „erfolgreichen“ und „abgeschlossenen“ Forschungsarbeit wird erwartet, dass sie ein Expert*innenwissen generiert, das dann in mundgerechten Häppchen serviert werden kann. Und das ist natürlich Teil davon – auch ich verdichte viele Forschungsergebnisse in eine komprimierte Form. Aber im Grunde geht es mir darum, das Prinzip der Meisterschaft zu unterminieren, indem ich Co-Autor*innenschaft, polyvokale Workshop-Formate, Autofiktion und kritisches Fabulieren (eine von Saidiya Hartman entwickelte Strategie) in meine Praxis einbeziehe. Ich schreibe mich selbst und andere Unangepasste in das historische oder kritische Narrativ ein, um die vermeintliche Unumstößlichkeit dessen, was uns von etablierten Institutionen und kulturellen Kanons vorgegeben wird, zu erschüttern.
Ich komme vom Theater, deshalb ist es mir wichtig, wie die Arbeit aufgenommen wird und wie die Leute damit interagieren – letztlich geht es mir darum, ein Publikum und eine Gemeinschaft zu schaffen. Die Arbeit soll verschiedene Zugänge bieten. Ich möchte die Leute nicht abschrecken, sondern verführen – durch Sprache, Humor und alltägliche ästhetische und materielle Ausdrucksformen wie das Herstellen und den Austausch von Ephemera – Zines, Flyer, Poster – die in den Ausstellungen zum Mitnehmen ausliegen. Und indem ich queere, lesbische, trans-, proletarische und subkulturelle Objekte in die materiellen Arbeiten einbeziehe.
Ich denke, dass die modularen Formate, mit denen ich arbeite, das Unvollkommene ausstellungs-, aufführungs- oder veröffentlichungswürdig machen, und ich hoffe, dass dies einen Zugang zu gemeinschaftlichen Netzwerken jenseits institutioneller Erwartungen und eines institutionellen Publikums schafft. In deiner Arbeit geht es auch sehr stark um Sprache, Stimme und das Verhältnis von Bild und Schrift. Ich frage mich, wie du in deiner eigenen künstlerischen Praxis mit Text und Sprache umgehst?
VK: Sprache ist das Medium, in dem ich mich am besten ausdrücken kann. Dabei bewege ich mich auf ganz unterschiedlichen Sprachebenen, je nachdem, ob ich einen Essay, ein Voiceover-Skript oder einen Text für eine Performance schreibe. Mein Buch, herausgegeben von Eva Birkenstock, Fanny Hauser und Viktor Neumann, vereint diese verschiedenen Ansätze der Textarbeit.
In meiner Arbeit versuche ich oft, meine Stellung als „Artist“ im Verhältnis zur sozialen Klasse zu thematisieren. In diesem Zusammenhang habe ich mich viel mit Verstrickung und Kompliz*innenschaft beschäftigt. Innerhalb der zeitgenössischen Kunst nehme ich keine marginalisierte oder Außenseiter*inposition ein, sondern eine relativ privilegierte. Während mir in meinen Videoarbeiten oft meine eigene Biografie als Ausgangspunkt für diese Auseinandersetzung dient, vermeide ich diese Selbstreferenzialität in meinen Essays, um Themen wie die Rolle der Kritik in der zeitgenössischen Kunst in einem erweiterten und abstrakteren Rahmen zu behandeln. […]

De-production – First Trimester (2024) Flat Time House mit Askeaton Contemporary Arts, Residenz, Zine-Veröffentlichung & öffentliche Veranstaltung, FTH, London. Foto von Frank Wasser
Reparative Herangehensweisen
LW: Kürzlich haben wir im Rahmen einer kollaborativen Arbeit unsere Freundin Iarlaith Ní Fheorais dazu eingeladen, an einer Adaption eines Kapitels aus James Joyces Ulysses mitzuwirken. Wir beschlossen, ein loses Skript mit Cut-Ups aus dem Originaltext zu collagieren, das wir als Grundlage für unsere Impro verwenden wollten. Iarlaith schlug vor, nicht sofort eine kritische Haltung einzunehmen. Das schien uns zu einfach, also versuchten wir etwas anderes: Wir konzentrierten uns auf das, womit wir arbeiten konnten, nicht auf das, was uns ärgerte, und entwickelten die Arbeit sozusagen zwischen den Zeilen.
VK: Eine reparative Herangehensweise.
LW: Genau! Diese reparative Herangehensweise war ein Vorschlag von Iarlaith. Zuerst war ich skeptisch, denn es handelte sich um ein größeres Projekt, in dessen Mittelpunkt James Joyce stand, einem zentralen Vertreter des Kanons der Moderne. Dieser Art von kritischem Ansatz, bei dem es darum geht, ethische Knoten aufzulösen, bin ich ehrlich gesagt schon überdrüssig. Aber dann dachte ich: „Okay, versuchen wir es.“ In diesem Fall bedeutete ein reparativer Ansatz, den Text zu lesen und zu zerschneiden, Joyces Worte neu zu arrangieren und zu collagieren, was am Ende wahrscheinlich eher auf eine paranoide Herangehensweise hinausläuft.
Die Idee einer reparativen Herangehensweise in der künstlerischen Forschung stört mich unter dem Gesichtspunkt von sozialer Klasse. Denn wenn ich an die reparativen oder paranoiden Lesepraktiken denke, wie sie Eve Kosofsky Sedgwick beschrieben hat, dann ist es für mich als Künstler*in aus der Arbeiter*innenklasse fast unmöglich, dem Kanon nicht mit einer kritischen Paranoia zu begegnen. Ich meine, es war nie vorgesehen, dass Leute wie ich in den Kanon aufgenommen werden. Also gehe ich an die Forschung mit dem Wunsch heran, erstens das zu diversifizieren, was als brauchbares Forschungsmaterial angesehen wird (durch das Einbeziehen von persönlichen Erfahrungen, Anekdoten, inoffiziellen Archive, unsichtbaren Geschichten, Gesprächen, Spekulationen oder Fiktionen), und zweitens mit dem Bedürfnis, das zu demontieren, was uns als legitim oder wertvoll verkauft wird. Dieser destruktive oder vielmehr dekonstruktive Impuls schafft einen Handlungsraum, in dem ich etwas Reparatives finde, mich mit Dingen beschäftigen kann, die nie für mich bestimmt waren.

Domestic Optimism Act 1 – Modernism a Lesbian Lovestory (2020), Grazer Kunstverein, Installationsansicht von Christine Winkler
Heute beschäftige ich mich intensiv mit Autotheorie, weil dieser Ansatz es mir ermöglicht, meine persönlichen Erfahrungen mit einer selbstreflexiven Kritikfähigkeit zu verbinden. Ich arbeite schon seit einiger Zeit mit Autofiktion, weil es mir durch das Verbinden von Autobiographischen mit Fiktiven gelingt, meine Forschung mit meinen persönlichen Erfahrungen und Wünschen zu verknüpfen.
Ich interessiere mich für Autotheorie als queeres, trans-, BIPoC- und feministisches Werkzeug, das Theorie mit dem Persönlichen, Emotionalen, Poetischen und Anekdotischen verwebt (wie Gloria Anzaldúas Borderlands & Billy Ray Belcourts A History of my Brief Body), mit dokumentarisch-reflexiven zeitbasierten Formaten (wie McKenzie Warks Rhetoric of the Mind) und mit Referenzen, Zitaten, Kunstkritiken und Synopsen kultureller Objekte (wie Maggie Nelsons The Argonauts und Harry Dodges My Meteorite).
Das Schreiben steht an erster Stelle, also schreibe, schreibe, schreibe ich. Aber ich möchte auch einen Weg finden, die Schreibpraxis anders zu gestalten, damit die Arbeit nicht zu sehr auf Sprache allein beruht, etwa indem ich mit Klang und Stimme, mit Gesten experimentiere. Vor allem mit Dingen, über die man nicht sprechen kann. Mein aktuelles Forschungsprojekt trägt den Arbeitstitel De-production und begann mit der Absicht, zu Familiengeschichten und den Verstrickungen der Gewalt des kolonialen Erbes, der Herrschaft des Patriarchats, der Verbindung von Kirche und Staat und der materiellen Realität der Arbeiter*innenklasse im Dublin der 1950er bis 70er Jahre, in das ich geboren wurde, zu forschen.
Ich war daran interessiert, die irische Arbeiter*innenfamilie als eine Struktur zu entschlüsseln, die schon immer nicht-biologische Verwandtschaftsformen einschloss. Ich wollte diesen Aspekt mit meinen eigenen Science-Fiction-Verkörperungen in meiner Kindheit verbinden und mit der Intimität, die dies zwischen mir und meiner Mutter in schwierigen Zeiten ermöglichte.
Viele meiner ursprünglichen Intentionen haben sich aufgrund der unglaublich herausfordernden Arbeit, all dies für mich zu erschließen, verschoben, aber wie es bei einem künstlerischen Forschungsprozess oft der Fall ist, wird das Ergebnis meine ursprünglichen Ideen und Impulse sicher deutlich widerspiegeln. Sprache ist für all das mein wichtigstes Werkzeug: Lesen, Schreiben und Gespräche mit Menschen, aufgezeichnete Gespräche.
Ich bin mir nicht sicher, warum gerade Sprache so zentral ist, aber sie scheint im gesamten Entstehungsprozess der Arbeit Träger aller anderen Bestandteile zu sein.
VK: Was ich durch Sprache versuche zu erreichen, ist, bessere Fragen zu stellen. Meine Arbeit entsteht in der Regel nicht aus einer Idee heraus, sondern aus Antworten auf Probleme, mit denen ich mich konfrontiert sehe. Selbst wenn ich diese Probleme nicht in meinem Kopf lösen kann, möchte ich zumindest eine präzise Frage stellen, von der ich hoffe, dass sie für andere politisch fruchtbar ist. Das ist etwas, das für mich mit Sprache zusammenhängt. Aber auch ein Arbeiten ohne das Hilfsmittel Sprache kann andere Wege eröffnen, um affektive Infrastrukturen zu kreieren, die das Potenzial besitzen, mit Menschen auf einer tieferen – über die Kognition hinausgehende – Ebene in Resonanz zu kommen.

Vika Kirchenbauer, SHE WHOSE BLOOD IS CLOTTING IN MY UNDERWEAR, 2016, Video, 3 mins, © Vika Kirchenbauer & VG Bild Kunst
Zeit zerstreuen
VK: Als ich 2007 nach Berlin gezogen bin, gab es viele besetzte Häuser. Sie waren ein wichtiger Teil meines Soziallebens und meiner politischen Sozialisation. In diesen feministisch-queeren Räumen konnte ich mich aufhalten, konnte ich ausgehen. Aber die meisten dieser Räume sind verschwunden und es herrscht die Ansicht, dass das, was wir verloren haben, nicht zurückkommen wird …
LW: …was auf eine lineare Zeitrechnung schließen lässt.
VK: Genau! Deshalb nehme ich deine Spekulationen als Anstoß, sich dieser Zukunftslosigkeit nicht hinzugeben. Und ich verstehe deine Schreibpraxis als eine Weigerung, der Vergangenheit nachzutrauern. Ein interessanter Ansatz, der über die Kritik hinausgeht. Ein Text, auf den ich immer wieder zurückkomme, ist Resisting Left Melancholy von der politischen Theoretikerin Wendy Brown. Darin betrachtet sie die vorherrschende „linke Melancholie“ im Hinblick auf Affekt und politisches Handeln. Für mich ist ihre Vorstellung von Melancholie eng mit dem affektiven Wohlbefinden verbunden, das kritische Klarheit vermitteln kann. Browns melancholische*r Linke*r ist eine depressive Person, die sich als Realist*in sieht, die an Wissen und Analysen hängt als seien sie materielle Güter, aber nicht erkennen kann, dass sie es in Wirklichkeit aufgegeben hat, die gegenwärtige Welt oder die Bedingungen der Zukunft auf der Grundlage gemeinsamer Überzeugungen oder Möglichkeiten verändern zu wollen. Die Ironie der Melancholie, so schreibt sie, „besteht darin, dass die eigene Bindung an das Objekt eines leidvollen Verlustes den Wunsch ersetzt, sich von diesem Verlust zu erholen.“ (1) Auch in deiner Arbeit weist du die Selbstgefälligkeit eines reaktionären Defätismus zurück, indem du dich auf das politische Begehren konzentrierst.
LW: Es geht auch um persönliches Begehren. Zuerst stelle ich mir etwas vor, das ich selbst begehre, und integriere es in meine Performances oder Texte. Dann versuche ich, die Implikationen dieses Begehrens zu reflektieren – sowohl meines eigenen Begehrens als auch das des Publikums. Darüber hinaus beschäftige ich mich mit der Frage nach der Wechselwirkung zwischen Klasse und Queerness. Ich frage mich, ob sie vielleicht eine Schnittmenge haben, ob sie einen gemeinsamen Raum teilen. Vielleicht ist das der utopische Aspekt meiner Arbeitsweise.
Ich teile die Ansicht von José Esteban Muñoz, dass Utopie etwas ist, das immer in der Zukunft liegt, und dass Utopie in ihrem Nie-Ganz-Dasein etwas Melancholisches und Hoffnungsvolles zugleich hat. Analog zu diesem Changieren zwischen Melancholie und Hoffnung bewege ich mich in meiner Arbeit von der kritischen und historischen Forschung hin zur Entwicklung von Lösungsansätzen. Ich arbeite oft mit Dingen, die nicht existieren oder um die man sich nicht gekümmert hat (Sexclub-Architekturen von und für FLINTA* in The Re-appropriation of Sensuality, Cruising-Orte für Dykes, queere Frauen und Trans-Personen in Sex in Public, vergessene oder marginalisierte Geschichten oder historische Figuren, die uns andere Realitäten aufzeigen als die, die uns vorgesetzt werden in Domestic Optimism).
Die Arbeit mit dem Utopischen ist meiner Meinung nach eine Praxis des World Building, die die Frage aufwirft, ob etwas in die Existenz gehoben werden kann, nur weil man es sich vorstellt und diese Vision mit anderen teilt. Mit De-Produktion versuche ich, einen Möglichkeitshorizont für ein Leben, für Liebe und Fürsorge jenseits der Kernfamilie aufzuzeigen. Vor diesem Hintergrund habe ich mich mit Gedankenexperimenten aus Science-Fiction und Fantasy beschäftigt und die Grenzen unserer Vorstellungskraft ausgelotet, etwa das Tabu, die Legitimität der Kernfamilie in Frage zu stellen. Ein utopisches Projekt, das aber auch eine durchaus materielle Dimension hat: Angesichts von Mangelwirtschaft und Pflegekrise, die immer mehr Arbeit, endloses Reproduktionspotenzial und immer weniger Zeit für kollektive Erfahrungen mit sich bringen, leben viele queere und Trans-Menschen und Menschen aus der Arbeiter*innenklasse bereits jetzt eine andere Realität und sind gezwungen, Patchwork-Lösungsansätze zu entwickeln. Sophie Lewis’ Arbeit war eine wichtige Inspiration für diesen Reflexionsprozess. […]
LW: Und dann gibt es die Zwischenräume. Du lässt auch absichtlich Leerstellen, etwa deine leere Leinwand. Es gibt Unterbrechungen und Pausen. Das macht wirklich etwas aus. Stille, Lücken, Löcher und Brüche sind alles Dinge, die mich im Forschungsprozess anziehen. Wie verhandelt man das, was nicht da ist, woran man sich nicht erinnert oder was man nicht artikulieren kann? Es gibt so viele Möglichkeiten, Formen der Reaktion zu entwickeln, materielle, ästhetische und sprachliche. Mich hat der leere Raum in deinen Videoarbeiten fasziniert, der Raum, in dem kein Bild zu sehen ist, der eine Art Pause erzeugt, und wie sich diese auf das auswirkt, was vor und nach ihr kommt.

Vika Kirchenbauer, UNTITLED SEQUENCE OF GAPS, 2020, Video, 13 mins, © Vika Kirchenbauer & VG Bild Kunst
VK: Bilderlosigkeit ist Teil fast aller meiner Videoarbeiten, am auffälligsten vielleicht in UNTITLED SEQUENCE OF GAPS (2020), einer Arbeit, die sich dem traumabedingten Gedächtnisverlust durch Reflexionen über Licht außerhalb des sichtbaren Spektrums annähert. Meine Absicht ist, keine lineare Kontinuität zu suggerieren, denn so funktioniert Erinnerung nicht. Es gibt große Lücken im Gedächtnis, wo Dinge verdrängt oder unzugänglich gemacht werden. Was auch immer im Gedächtnis zugänglich ist, umfasst nicht die Gesamtheit der gelebten Erfahrung, es ist nur ein flüchtiger Eindruck. Dies möchte ich formal reflektieren, als vermeintliche Lücken, die eine Bedeutung haben.
LW: Und ich glaube, dass genau deshalb auch das Format der Memoiren problematisch ist, weil es eine völlig lineare, chronologische Struktur suggeriert. Ich spiele gerne mit den Bruchstellen und dem Auseinanderdriften. Wenn also etwas zu sehr nach Vortrag klingt oder zu direkt biografisch klingt, dann gehe ich einen Schritt zurück und suche die Stellen, an denen ich die formalen Erwartungen aufbrechen kann, um etwas Unerwartetes, Perverses oder Absurdes entstehen zu lassen. Ich liebe das Durcheinander dieser dichten Überlappungen – die Punkte, an denen sich die Linie auflöst und die Wunde eine mögliche Welt inmitten des Bruchs offenbart. […]
Über die Künstler*innen:
🔗 Website Lyónn Wolf
🔗 Website Vika Kirchenbauer
Übersetzung aus dem Englischen von Philipp Rühr
(1) Wendy Brown: „Resisting Left Melancholy“, in: boundary 2, Bd. 26, Nr. 3 (Herbst 1999), S. 20.