Eine Tragetasche, sprießend
– Eric Macedo und Camila de Caux zur Installation "Earthseed or Archipelago #1" von Aline Baiana
Im Dialog mit aktuellen und ehemaligen Stipendiat*innen sowie Gastautor*innen entwickelt sich Plural zu einem Raum für textuelle Formen, die sich mit künstlerischer Forschung auseinandersetzen, sie reflektieren und praktizieren. Diese Essays und Gespräche erörtern Theorien, begleiten Forschungsprojekte und untersuchen Rahmenbedingungen von Wissensproduktion.
Eric Macedo und Camila de Caux’ Beitrag A Carrier Bag, Sprouting folgt Aline Baianas Installation als einem poetischen Gegenarchiv zur Monokultur – eine Sammlung von Geschichten über Widerstand, Erinnerung und ökologische Verbundenheit, gesammelt aus den verletzten Landschaften, die der Soja-Extraktivismus in Brasilien hinterlässt.
Anmerkung zur farblichen Hervorhebung: Rot markierte Textstellen wurden hauptsächlich von Eric Macedo verfasst, grün markierte Textstellen von Camila de Caux. Sämtliche Passagen wurden von beiden Autor*innen umfassend bearbeitet.
Eine Tragetasche, sprießend
– Eric Macedo und Camila de Caux zur Installation „Earthseed or Archipelago #1“ von Aline Baiana –

Recherchematerial, Aline Baiana. Photo: Clara Sonder
*
Du stehst inmitten eines weiten Feldes. Um dich herum breitet sich schier endlos eine einzige Pflanze aus, ein breitblättriger Strauch, ein bis eineinhalb Meter hoch und nicht gerade hübsch anzusehen. Und jetzt stell dir vor: Dieses Feld erstreckt sich über ganz Deutschland. Hier und da mag ein Baum stehen, ein Vogel oder ein Insekt herumfliegen, aber im Großen und Ganzen bedeckt eine einzige Art die gesamte Fläche. Am Horizont erntet eine riesige Maschine die Schoten der Pflanze. Wenn du Pech hast, fliegt ein Flugzeug über dich hinweg und versprüht giftige Chemikalien, die alles Leben außer dieser wertvollen Pflanze auslöschen. So könnte das düstere Ende eines Films über eine apokalyptische Alien-Invasion aussehen. Nur dass es in einem Teil der Welt tatsächlich passiert.
Soja-Monokulturen bedecken heute allein in Brasilien 44 Millionen Hektar Land. Das sind weit mehr als die 35 Millionen Hektar, die das deutsche Staatsgebiet insgesamt einnimmt. Die Sojabohne ist die weitverbreitetste Nutzpflanze Brasiliens und ihr Anbau ist maßgeblich für die Zerstörung von Lebensräumen im Landesinneren – insbesondere im ursprünglichen Cerrado-Biom – und in Teilen des Amazonas-Regenwaldes verantwortlich.
In ihrer Installation Earthseed or Archipelago #1 beleuchtet die Künstlerin Aline Baiana (in Zusammenarbeit mit Tapixí Guajajara) das Ausmaß dieser Auswirkungen und setzt die Zerstörung der Biodiversität in Beziehung zur Dynamik der Kolonialisierung und zum damit einhergehenden Rückgang der soziokulturellen Vielfalt.
In Earthseed oder Archipelago #1 sind Sojabohnen als natürliche Perlen an langen Fäden aufgereiht, die in einer dreieckigen Holzkonstruktion von der Decke hängen. In deren Mitte verbirgt sich ein Mosaik aus verschiedenen Samen, die zu einem Netz aus leuchtenden Farben und haptisch anmutenden Texturen aufgefädelt sind. Die Samen, aus denen dieses zentrale Element besteht, wurden von Indigenen, Quilombola- und anderen ländlichen Communitys und Individuen aus ganz Brasilien zusammengetragen. Ihre Vielfalt lässt sich jedoch erst vollständig erfassen, wenn man das von den Sojavorhängen gebildete Meer der Gleichheit durchquert hat.

Earthseed or Archipelago #1, 2022, Installationsansicht aus der Gruppenausstellung Stepping Softly on The Earth im Baltic Centre for Contemporary Art, Gateshead. Foto: John McKenzie
Das Bild eines Archipels beschreibt treffend die sozio-ökologische Landschaft des südamerikanischen Kontinents infolge des endlosen Kolonisierungsprozesses, der mit der europäischen Invasion begann. „Die neuzeitliche Expansion Europas ist das kulturgeschichtliche Pendant zum Anstieg des Meeresspiegels, der uns heute bedroht“, so der Anthropologe Viveiros de Castro. „Nach fünf Jahrhunderten zunehmender Überflutung des anthropologischen Urkontinents sind nur wenige Inseln indigener Kulturen an der Oberfläche geblieben“. (1) Die Gruppen, die sich gegen die Invasion wehren, sehen sich ständig mit Bedrohungen ihrer Lebensweise und der Unversehrtheit ihrer Territorien konfrontiert – und eine dieser Bedrohungen ist die Soja-Agrarindustrie.
Jede Insel dieses Archipels ist ein einzigartiges soziokulturelles Gebilde mit eigenem Wissen, eigenen Sprachen und Traditionen. Sie alle sind durch die Ausbreitung der modernen brasilianischen Gesellschaft bedroht. Auch wenn Brasilien ein heterogenes Konstrukt ist, so lässt sich dieser Staat doch als eine homogenisierende Kraft bezeichnen, als monströser Blob, der seit jeher darauf aus ist, die Inseln, um die er sich ausbreitet, zu zerstören und zu absorbieren.
Dieser Prozess der Homogenisierung durch Plantagen, der vor fünfhundert Jahren begann, dauert bis heute an: Im brasilianischen Amazonasgebiet sind die Yanomami, Munduruku und andere Communitys durch illegalen Goldabbau in ihrer Existenz bedroht; im Süden des Landes werden die in überfüllten Reservaten angesiedelten Guaraní-Kaiowá durch Soja- und Zuckerrohr-Großgrundbesitzer*innen dezimiert; verschiedene andere Communitys im ganzen Land sehen sich mit dem Bau von Staudämmen, der Infiltration ihrer Gebiete, illegalem Fischfang, Kahlschlag, Goldgewinnung und Entwaldung konfrontiert. Und selbst diejenigen, die sich entschieden haben, isoliert von der brasilianischen Gesellschaft zu leben, können dem Vormarsch der illegalen Landnutzung, der Infrastrukturprojekte und der Expansion der Agrarunternehmen nicht entkommen.
Die Vernichtung von Unterschieden nimmt mitunter die Form eines wahren Genozids an, bei dem ganze Gemeinschaften (in kurzer Zeit oder über Jahrhunderte) physisch ausgelöscht werden. In anderen Fällen erfolgt sie als Ethnozid, als Auslöschung der Einzigartigkeit der Gemeinschaft und als Aufhebung ihrer Autonomie. In jedem Fall – und oft sind die Opfer von beiden Varianten gleichzeitig betroffen – läuft es auf dasselbe hinaus: Unzählige Gemeinschaften von Menschen und Nichtmenschen, die sich über Jahrtausende auf ganz bestimmte Weise gebildet haben, ganze Welten, werden einfach von der Erdoberfläche getilgt. Der Reichtum unserer Erde, diese dichte Ansammlung von Welten in einer Welt, wird stündlich dezimiert.
*
In der Einleitung zu ihrem Gedichtband Appalachian Elegy (2012) erinnert sich bell hooks an ihre Kindheit in den Hinterwäldern Kentuckys, wo sie lernte, „die Leidenschaft für Freiheit und die Wildheit“ ihrer damaligen Erfahrung mit „Anarchie, mit dem Glauben an die Macht des Individuums, selbstbestimmt zu sein“ zu verbinden. Schwarze Menschen in Kentucky lebten, so die Autorin, in „einfachem Überfluss“, indem sie fischten, jagten, Hühner züchteten, Acker- und Weinbau betrieben, Blumen pflanzten und „einen ökologischen Kosmopolitismus“ kultivierten.
Wie Baiana erinnert uns auch hooks daran, dass es keine Autonomie und keine Freiheit geben kann, ohne die Vielfalt des Lebens zu teilen, ohne Welten mit einer Vielfalt nichtmenschlicher Wesen zu schaffen, die diesen mehr-als-menschlichen Gemeinschaften ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Sobald diese Beziehungen zwischen den Arten durch den Staat und den Markt vermittelt werden, sobald sie ihren lokalen Kontext und ihre relative „Wildheit“ verlieren, endet die Freiheit, und das spezifische Verhältnis eines Kollektivs zu seiner Umwelt beginnt zu schwinden.

Earthseed or Archipelago #1, 2022, Installationsansicht aus der Gruppenausstellung The Silence of Tired Tongues bei Framer Framed, Amsterdam. Fotos: Maarten Nauwn
Bei den Samen, die hinter den Sojabohnen in Baianas Installation verborgen sind, handelt es sich um sogenanntes kreolisches Saatgut. Das sind lokale Kulturpflanzenvarietäten, die seit Generationen von traditionellen, Indigenen und Quilombola-Bäuer*innen gezüchtet werden. Diese Sorten sind das Ergebnis eines langen und vielfältigen Selektionsprozesses: Genetische Optimierung und Austausch von Saatgut dienen der Zucht von Pflanzen, die an bestimmte lokale Umgebungen und kulturelle Neigungen angepasst sind. Diese Vielfalt drückt sich in einer unermesslichen Fülle lokaler Kulturpflanzen aus, die reich an Farben, Formen und Geschmäckern sind.
Das kreolische Saatgut ist zunehmend bedroht, obwohl es der Menschheit ein wichtiges Instrument an die Hand gibt, den potenziellen Risiken des agroindustriellen Modells entgegenzuwirken. Die konventionelle, industrielle Landwirtschaft gilt als lukrativer und wird daher von den Wirtschaftsmächten gegenüber agrarökologischen und traditionellen Anbaumethoden bevorzugt. Der großflächige Anbau von Monokulturen, bei dem die Gewinnmaximierung über die biologische Vielfalt gestellt wird, basiert weitgehend auf gentechnisch veränderten Organismen (GVO), standardisiertem Saatgut und einer Vielzahl von Pestiziden und toxischen Chemikalien. Dieser Produktionsprozess beruht auf Uniformität, und das Resultat ist eine zunehmende Nivellierung.
Der Begriff der Anarchie ist hier in einem erweiterten Sinne zu verstehen. bell hooks’ „Glaube an die Macht des Individuums, selbstbestimmt zu sein“ bezieht sich nicht nur auf die Menschen, die die verschiedenen Sorten manipulieren. In den riesigen Sojafeldern, in denen sich die starren Linien der Uniformität so weit das Auge reicht erstrecken, wirkt die akribisch kontrollierte Umgebung wie ein Mechanismus der Einschränkung – ein Versuch, Ordnung zu schaffen und die Veränderungsprozesse einzufrieren, die jedem Saatgut innewohnen.
Das Auslöschen aller anderen Lebensformen dient einzig und allein der Standardisierung des Korns. Die industrielle Intensivlandwirtschaft, die vom Streben nach kommerzieller Effizienz bestimmt ist, beherrscht die Umwelt und diktiert die Bedingungen, mit dem Ziel, jede Abweichung von den gewünschten Merkmalen zu verhindern. Diese systematische Kontrolle ist nicht nur ein Mittel zum Zweck, sondern ein Versuch, einen Zustand der Stagnation aufrechtzuerhalten, der sicherstellt, dass die Bohnen weiterhin den vorgegebenen Standards der kommerziellen Rentabilität entsprechen. Sie hält die Bedingungen aufrecht, die Selbstidentität des Getreides zu gewährleisten, seine Selbstähnlichkeit – seine Reproduzierbarkeit.
Die industrielle Beherrschung schöpferischer und transformatorischer Prozesse ist also nicht bloß ein kommerzielles Merkmal der Landwirtschaft. Sie ist vielmehr ein kosmologisches Projekt: Sie verhindert, dass das Saatgut selbstbestimmt ist und sich durch seine Wechselwirkung mit anderen Arten, dem Boden, dem Wasser und dem Klima verändert.
Der quilombolische Denker Nego Bispo betont im Hinblick auf die grundlegende Divergenz zwischen dem im europäisch-christlichen Denken verankerten Monismus und dem Kosmopolitismus, der den Perspektiven nicht-westlicher Gemeinschaften innewohnt, die unterschiedlichen Konnotationen des Begriffs des „Einen“. (2) Im Gegensatz zur exklusiven Einheit der westlichen Kultur – einer Einheit, die sich selbst als Zentrum positioniert, einer Singularität, die sich nur durch die Subsumtion und Auslöschung des Anderen zu behaupten weiß – kann es in der biointegrativen Kosmovision der antikolonialen Gemeinschaften „das Eine nur geben, weil es mehr als das Eine gibt“. Das Eine existiert hier nur als Teil des Kosmos, als integraler und verflochtener Teil eines Ganzen – ein Einssein, das Vielfalt in sich birgt.
*
Inmitten dieses gigantischen, von der Uniformität der Sojabohnen geprägten Feldes wird die Inspiration für June Jordans Poem for Nana (1980) einmal mehr greifbar. An einem Berghang in Kalifornien sitzend beobachtet die Dichterin ein tragisches Schauspiel: 40.000 Gallonen Öl ergießen sich in die Gewässer des Pazifiks. Sie reflektiert die Vielfalt der Indigenen Gruppen, die einst dieses Land bewohnten und heute weitgehend ausgelöscht sind. Inmitten der orangefarbenen Mohnblumen – Symbol für die gewaltsame Kolonisierung des Goldrausches, der genau auf dem Land stattfand, auf dem sie gerade sitzt –, blickt sie auf „40,000 gallons of oil gushing into / the ocean“ und fragt sich: „What will we do / when there is nobody left / to kill?“ (3)
Doch das ist nicht die einzige Frage, die das Gedicht stellt: „Wie können wir euch nachfolgen?“, fragt Jordan, nachdem sie zahlreiche Namen indigener Gemeinschaften aufgezählt hat. Die Frage ist kein Akt der Kapitulation; anstatt sich der Assimilation zu unterwerfen, anstatt sich auslöschen zu lassen, regt sie uns vielmehr zum Nachdenken darüber an, wie wir die Reproduktion unterdrückerischer Praktiken unterbinden können, die zur allmählichen Auslöschung von Unterschieden führen.
Wie würdigen wir die verschiedenen Erzählungen, wie bringen wir ihnen Respekt entgegen? „I am a woman searching for her savagery“(4), erklärt die Dichterin. Der Begriff „savagery“ [dt. Wildheit] ist hier nicht im Sinne einer Exotisierung des Gegenübers zu einer faszinierenden wilden Kreatur gemeint. In ihren Vorträgen lädt Jerá Guarani ihr nicht-Indigenes Publikum ein, „wild“ zu werden: Menschen zu werden, die „nicht so intellektuell, nicht so bedeutsam“ sind; Menschen, die in ihrem Alltag nicht auf den Komfort des Konsums, auf die Unterwerfung anderer Lebensformen angewiesen sind. Wildheit bedeutet in erster Linie die Fähigkeit zum Leben ohne Lohn, ohne Staat, zum autonomen Leben, aber letztlich auch die Kraft zur Selbsterneuerung, zur Selbstgenügsamkeit, zur Selbstbestimmung.
*
Baianas Werk basiert auf einer Reihe sich überlagernder Metaphern, in denen sie verschiedene Erkenntnisse und Analogien aus ihrer Forschung verbindet. „Sammeln“ kann mehr bedeuten, als es zunächst den Anschein haben mag: Ursula K. Le Guins „The Carrier Bag Theory of Fiction“ ist ein zentraler Bestandteil ihrer künstlerischen Methode. „Ein Blatt eine Kalebasse eine Muschel ein Netz eine Tasche eine Schlinge ein Sack eine Flasche ein Topf eine Schachtel ein Behälter. Ein Griff. Ein Gefäß“ (5), heißt es in Le Guins Die Tragetaschentheorie der Fiktion (1986). Das Sammeln, die Pflege und das Teilen in der Gemeinschaft sind weitaus interessantere Werkzeuge als der Jagdspeer, der im Zentrum der heroischen Erzählung des Jägers steht.
Sammeln heißt nicht anhäufen, sondern mit der Welt interagieren. Ein Akt des Wissens und des Teilens. Wir sammeln „verschiedenste Dinge, […] weil sie nützlich, essbar oder schön sind“, sagt LeGuin. Später „trägst du die Sachen dann nach Hause– das Zuhause ist ebenfalls eine Art Beutel oder Tasche, nur größer, ein Gefäß für Menschen –, und nimmst sie heraus, um sie zu essen, mit anderen zu teilen oder für den Winter in einem robusteren Behältnis einzulagern, oder du legst sie in das Medizinbündel, in den Schrein oder das Museum, die geweihte Stätte, den Bereich, der das Heilige birgt, und am nächsten Tag machst du mehr oder weniger dasselbe aufs Neue.“ Die Tragetasche ist ein Raum für geteilte Erfahrungen und verwobene Erzählungen.

Earthseed or Archipelago #1, 2022, Installationsansicht aus der Gruppenausstellung The Silence of Tired Tongues bei Framer Framed, Amsterdam. Fotos: Maarten Nauwn
Baianas Tragetasche ist offen für Ideen, Materialien und Geschichten. Ihr liegt ein bestimmtes Ethos zugrunde – eine Illoyalität gegenüber Systemen, die Homogenisierung, Unterwerfung und Auslöschung aufrechterhalten. Ihre Praxis ist eine Form des Sich-Verbündens; Baiana arbeitet nie allein. Sie arbeitet konsequent in kollaborativen Kontexten geteilter Kreativität. Einer ihrer Kooperationspartner*innen ist die Künstlerin und Aktivistin Tapixi Guajajara, die sie während ihres Kampfes für indigene Anliegen in Rio de Janeiro kennen lernte. Tapixi gestaltete das Kernstück der Installation Earthseed or Archipelago #1 maßgeblich mit, indem sie Hunderte von Samen verschiedener Arten miteinander verwob. Tapixi griff für ihre innovative Arbeit auf traditionelle indigene Kunstpraktiken zurück, verwendete auf Baianas Anregung hin jedoch Samen, die in solchen Kontexten eher unüblich sind.
Innerhalb der werkimmanenten Logik dieser Arbeit erweist sich die Methode als zentrales Konzept: Keine Idee ist in Stein gemeißelt. Ideen werden gekreuzt, ausgetauscht, geteilt. Und daraus entsteht ein neuer Aktant: „Ich habe unsere Gemüter in Gärten verwandelt und eine Kalebasse voller Samen hineingeworfen“, beschreibt Nego Bispo seine Strategie der Gegenkolonisierung des Diskurses, mit der er an die Kosmovision der Quilombola anknüpft.
Anstatt die Welt in Ideen zu verwandeln – ein artenreiches Land in einen monotonen Hinterhof, ein Feld sich endlos wiederholender Sojabohnen –, transformiert diese Methode die Wahrnehmung in fruchtbaren Boden. Die Wahrnehmung wird so zum Nährboden für das Gedeihen der Welt.
*
Die Wissenschaft schlägt angesichts des Verlusts der genetischen Vielfalt von Kulturpflanzen regelmäßig Alarm. Dabei hat jede moderne Variante ihren Ursprung in einer lokalen Variante. Kreolisches Saatgut ist eine wichtige genetische Quelle für Toleranz und Resistenz gegenüber verschiedenen Stressfaktoren und ermöglicht die Anpassung der Pflanzen an unterschiedliche Umweltbedingungen. Angesichts der Tatsache, dass sich das Klima auf der Erde verändert und sich in naher Zukunft noch stärker und schneller verändern wird, muss die Menschheit auf diese genetische Vielfalt zurückgreifen, um Saatgut zu finden, das an die neuen klimatischen Bedingungen angepasst ist.
Die Praxis des Schutzes von traditionellem Saatgut ist in Brasilien in Anbetracht der Ausbreitung von industrieller Landwirtschaft glücklicherweise als wichtiger Schritt anerkannt worden. Die so genannten „Hüter*innen des kreolischen Saatguts“ bewahren, züchten und tauschen eine unfassbare Anzahl kultivierter Saatgutsorten. Ihre Arbeit trägt maßgeblich zum Erhalt der biologischen Vielfalt in der kleinbäuerlichen, familiären und gemeinschaftlichen Landwirtschaft bei. Sie praktizieren den Austausch von Saatgut und die Weitergabe von Wissen. Sie sind es, von denen Baiana das Saatgut für Earthseed erhalten hat.
In Octavia Butlers Die Parabel vom Sämann (Parable of the Sower), an dessen Titel der Installationtitel angelehnt ist, gründet eine junge Frau, Lauren Olamina, eine Bewegung, die die Möglichkeit des Lebens in einer völlig zerstörten, dystopischen Welt wiederherstellen will. Lauren entwickelt ein neues Glaubenssystem namens Earthseed und vertritt die Ansicht, dass die Glaubensgemeinschaften ihre eigenen Nahrungsmittel anbauen müssen, um sich selbst versorgen zu können. Das zentrale Prinzip ihrer Philosophie drückt sich in dem Satz aus: „Gott ist Veränderung“. Das gilt auch für die kreolischen Samen. Das Schlüsselwort in diesem Zusammenhang ist Anpassungsfähigkeit. Eingewoben in ein Netz von Beziehungen, das ihnen Stärke und Verbundenheit verleiht, ermutigen uns diese Samen, den Wandel anzunehmen, zu gestalten und zu steuern. Sie weisen uns einen möglichen Weg zur Selbstbestimmung.
*
Übersetzt aus dem Englischen von Philipp Rühr
Eric Macedo ist Anthropologe und forscht am Zentrum für Nachhaltigkeitsstudien der Fundação Getúlio Vargas in São Paulo.
Camila de Caux ist Autorin, Künstlerin und Anthropologin.
Wie referenziert:
(1) Eduardo Viveiros de Castro, “In Isolation,” A Perfect Storm, 2020,
https://aperfectstorm.net/in-isolation/.
(2) Antônio Bispo dos Santos, “A terra dá, a terra quer.” São Paulo: Ubu Editora/PISEAGRAMA, 2023.
(3) June Jordan, „Poem for Nana“, in: Jan Heller Levi und Sara Miles (Hg): Directed By Desire: The Collected Poems of June Jordan (Copper Canyon Press, 2005), 249–252, online: https://www.poetryfoundation.org/poems/48764/poem-for-nana
(4) Jerá Guarani, „Becoming Savage“, in: Futuress. Where feminism, design and politics meet, 22.4.2022; online: https://futuress.org/stories/becoming-savage/
(5) Ursula K. Le Guin, „Die Tragetaschentheorie der Fiktion“, übers. v. Philipp Albers, in: Sarah Shin, Mathias Zeiske (Hg.), Carrier Bag Fiction (Spector Books, 2021), 36–45.