2025 Fellowship Weltoffenes Berlin: Pary El-Qalqili
The Unruly Archive
Das künstlerische Forschungsprojekt The Unruly Archive besteht aus drei miteinander verbundenen Teilen: einem Film, der die Gegenerinnerung(en) von Palästinenser*innen in Deutschland erforscht, einer Performancereihe, die den öffentlichen Raum stört, und dem Aufbau eines gemeinschaftszentrierten Archivs, das der hegemonialen Wissensproduktion über die palästinensische Vergangenheit und Gegenwart widerspricht.
Erster Teil: Ein zärtlicher Blick
Palästinensische Geschichte wurde im deutschen Kontext jahrzehntelang überschrieben, verzerrt und/oder ausgelöscht. Die kollektive palästinensische Erfahrung von Vertreibung, Enteignung und vielschichtiger staatlicher Gewalt ist nicht Teil der selektiven deutschen Erinnerungskultur. Bis heute leugnet der Staat nicht nur, dass ein Genozid an den Palästinenser*innen begangen wird, sondern unterstützt ihn auch aktiv. Das Verbot der Berliner Polizei, bei den Protesten Anfang 2025 Arabisch zu sprechen und Trommeln zu spielen, zeigt, wie der Staat versucht, palästinensische Präsenz auf der Straße, an Universitäten und Schulen durch Kriminalisierung zu unterdrücken. Die Figur des Palästinensers war schon immer ein Störfaktor im Umgang Deutschlands mit der eigenen genozidalen Vergangenheit und wird nach wie vor als potenzielle Bedrohung der inneren Sicherheit dargestellt.
Meine Suche nach den Spuren palästinensischer Geschichte führte mich zu einer Sammlung historischer Fotografien, die von deutschen Theologen angelegt wurde, die Anfang des 20. Jahrhunderts nach Palästina reisten. Die Sammlung besteht aus 2000 Glasplattenfotografien, die größtenteils von Hugo Gressmann während seiner archäologischen Reise nach Palästina 1906/07 aufgenommen oder lokalen Fotograf*innen abgekauft wurden. Der Schwerpunkt der Bestände liegt auf Ausgrabungsstätten, der Flora und Fauna Palästinas sowie Porträts von Palästinenser*innen, die orientalistische Vorstellungen und Fantasien vom Heiligen Land reproduzieren. Das Erste, was mir in dem Archiv auffiel, war die Kategorisierung der Bilder, die Menschen nach ihrer sozialen Herkunft klassifiziert. Indem Palästinenser*innen als primitiv, unzivilisiert und rückständig dargestellt werden und Palästina als biblisches Land, das von Beduin*innen, Bettler*innen und Bäuer*innen bewohnt wird, vermitteln diese Bilder ein stereotypes Zerrbild des Orients. Dabei stellte sich mir die Frage, inwiefern der orientalistische koloniale Blick in der heutigen visuellen Darstellung von Palästinenser*innen nachwirkt – als Terrorist*innen, aggressive Demonstrant*innen, Antisemit*innen oder Clanmitglieder. Ich begann, visuelle Fantasien über Palästinenser*innen in deutschen theologischen Archiven zu untersuchen, um die zirkulierenden gewaltsamen Darstellungen zu dekonstruieren.
Das Bildmaterial, das ich im Bundesarchiv fand, war spärlich, aber eine der Aufnahmen hat sich mir eingeprägt: die Aufnahme eines maskierten palästinensischen Attentäters bei den Olympischen Spielen 1972. Vor dem Hintergrund der strengen Architektur des Olympischen Dorfes wirkt das Bild wie eine Szene aus einem Science-Fiction-Film. Die Gesichtslosigkeit des Attentäters macht die Figur zu einer Abstraktion des absolut Bösen und der Gewalt. Dieses Bild wurde zu einem wiederkehrenden Motiv im öffentlich-rechtlichen Fernsehen in Deutschland, mit dem Palästinenser*innen als Terrorist*innen gebrandmarkt wurden. Mein geplanter Film Sprich Bild, Sprich nimmt dieses grobkörnige Bild als Ausgangspunkt, um die gewaltsame Bildpolitik, der die Figur des Palästinensers ausgesetzt ist, mit einem „oppositionellen Blick“ (1) zu unterminieren. Um Ngũgĩ wa Thiong’o zu zitieren: Wie können wir „uns selbst klar sehen“, (2) wenn die vorherrschende visuelle Repräsentation den kollektiven und individuellen Körper verzerrt? Wie kann man Bildern entgegenwirken, die (bereits seit so langer Zeit) die Entmenschlichung der Palästinenser*innen ermöglicht haben?
Meine Bildsprache gibt denjenigen, die staatlicher Überwachung und Verfolgung ausgesetzt sind, Raum, ihre Geschichten selbst zu erzählen. Überlebende der Nakba und des Genozids blicken auf die Bilder, die sie repräsentieren. Sie lenken unseren Blick auf die Flammen, in denen sie ihre eigenen Archive und Dokumentationen gelebten Widerstands und Solidarität verbrennen mussten. Der Film spürt den kollektiven und individuellen Wunden und Verletzungen, die durch staatliche Gewalt verursacht wurden, nach. Indem ich diese Wunden archiviere, würdige ich das Verborgene, das Unerzählte, die von Scham verdeckten Fragmente, die unter Schmerzen erzählten Geschichten. Sprich Bild, Sprich entspringt einem feministischen Verständnis von Fürsorge als zentralem Element der Geschichtsschreibung und des Filmemachens. Fürsorge bedeutet Zärtlichkeit für diejenigen, die immense Gewalt erfahren haben. Im Kino drückt sich diese Fürsorge in einem zärtlichen Blick aus.
Zweiter Teil: Stören
Während eines Genozids gibt es keinen Moment des Innehaltens, des Ausruhens, des Durchatmens oder der Erholung. Angesichts der ständigen Bedrohung durch Vertreibung, Verletzung, Hunger und Tod haben die Überlebenden keinen Raum, um ihre Verluste zu betrauern und die Kräfte und Traumata der genozidalen Gewalt zu verarbeiten.
Zeug*in des Genozids von Berlin aus zu sein, bedeutet, ihn in der Höhle des Löwen zu erleben. Als Zeug*innen können wir immer noch sprechen, dokumentieren, aussagen, stören und intervenieren. Meine Performancereihe During Genocide trägt die kollektive Trauer in den öffentlichen Raum.
Wie können wir uns dem Prozess der Entwürdigung und Entmenschlichung palästinensischen Lebens, der diesen Genozid ermöglicht hat, widersetzen? Wie können wir palästinensischen Lebens gedenken, obwohl es wertlos gemacht wird? Wie können wir der kollektiven Trauer, dem Schmerz und der Wut über die andauernden Verbrechen und Massaker Ausdruck verleihen?
Da der Genozid von den Täter*innen und ihren Handlanger*innen nicht als solcher anerkannt wird, interveniert die Performancereihe im öffentlichen Raum, um das Recht auf Leben zurückzufordern und wiederherzustellen. Intime Gesten des Überlebens, der Fürsorge und Visionen einer menschenwürdigen Zukunft werden ausgeführt und zelebriert. Die Performancereihe besteht aus sieben Kapiteln – Trauer, Widerstand, Schlaf, Fürsorge, Weisheit, Träume, Lernen – und bietet einen Raum für kollektive Erinnerung und Rituale, die Leid und Widerstandskraft aufzeigen.
Dritter Teil: Fürsorgearbeit für die Geschichte
Im Sommer 2024 haben wir gemeinsam mit dem Palästinensischen Feministischen Kollektiv begonnen, die palästinensische Geschichte selbstbestimmt und gemeinschaftsorientiert zu archivieren. Wir nutzen verschiedene Methoden, um die notwendige Fürsorgearbeit für die palästinensische Vergangenheit und Gegenwart zu praktizieren. In Workshops zur Oral History vermitteln wir Palästinenser*innen aus der Berliner Diaspora, wie sie ihre eigenen narrativen Interviews führen können. Auch die kollektive Kartierung palästinensischer Geschichte in Berlin ist ein integraler Bestandteil des Projekts. Derzeit arbeiten wir mit Frauenmachendruck zusammen, um Porträts von palästinensischen Frauen* zu drucken, die im öffentlichen Raum ausgestellt werden.
Das einjährige Fellowship-Programms „Weltoffenes Berlin“ wird durch die Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt gefördert.
Pary El-Qalqili ist eine in Berlin lebende Autorin und Filmemacherin. In ihren filmischen Arbeiten erforscht sie nicht-lineare Erzählungen, die hegemoniale Narrative infrage stellen. Sie beschäftigt sich mit Lebensläufen, die erschüttert, entwurzelt, kolonisiert und marginalisiert wurden. Kürzlich realisierte El-Qalqili eine Reihe von Performances, die kollektive Trauer in den öffentlichen Raum tragen. Sie lehrt feministische und dekoloniale ästhetische Praxis und Film. 2024 war sie Mitbegründerin des Palästinensischen Feministischen Archivs Berlin.
Pary El-Qalqili is a writer and director based in Berlin. In her cinematic work, she explores nonlinear narratives that challenge hegemonic storytelling, looking at life that has been disrupted, uprooted, colonized and marginalized. Lately she conceived a performance series that carries collective grief into public space. She teaches courses on feminist and decolonial aesthetic practices and cinema. In 2024 she co-founded the Palestinian Feminist Archive Berlin.
(1) bell hooks, „Der oppositionelle Blick: Schwarze Frauen als Zuschauerinnen“, in: Black Looks. Popkultur – Medien – Rassismus. (Orlanda Frauenverlag, 1994), 145–165.
(2) Ngũgĩ wa Thiong’o, Decolonizing the Mind (James Curry, 1986), 87.